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Über das Theater für sehr junges Publikum

In der Arbeit für sehr junge Zuschauer*innen gilt es, die grundsätzlichen Fragen des Theaters neu zu stellen. Den Blick noch ungetrübt von Konventionen, erwartet das kleine Kind nichts Bestimmtes. Es ist bereit, alles aufzunehmen, was wir ihm anbieten.
Das ist eine Situation, die uns herausfordert, die Grundlagen der theatralen Kommunikation zu untersuchen. Die Künstler*innen öffnen ihre Weltsicht, ihre Fantasie für den offenen und fragenden Blick des Kindes. Dessen Sicht auf uns und unsere Arbeit lässt keine Verstellung gelten, sucht nach Welterfassung, ernst und zuversichtlich. Die Zuversicht erzwingt unsere Präzision, unsere Auseinandersetzung mit dem, was wir zeigen wollen, inhaltlich und ästhetisch.

Es wird immer auch für das begleitende erwachsene Publikum mit inszeniert. Die Stücke wollen alle Zuschauenden erreichen. Wenn sie gelingen, sind sie ebenso komplex wie einfach. Die Künstler*innen fragen vor Beginn der Proben und im Verlauf der Entwicklung: Was ist der Wert des Erzählten? Was ist an dem behandelten Stoff elementar menschlich und wie können wir die entwickelten Inhalte in Bilder und Vorgänge übersetzen, die einen dreijährigen Menschen ebenso fesseln wie zum Beispiel seine 11-jährige Schwester und seine Großeltern?
Während die jüngsten Zuschauer*innen vor allem auf der sinnlichen Ebene rezipieren, bringen die älteren ihre Erfahrungen in das Theatererlebnis ein. So z.B. in dem Objekttheaterstück „Eine kleine Geschichte“. Das Zerbrechen einer alten, goldenen Kaffeekanne, die das Publikum eben noch mit einer anderen Kanne auf einem Plattenteller zur Musik von Frank Sinatra tanzen sah, rüttelt uns auf. Das kleine Kind sieht eine kaputte Kanne und möglicherweise den Skandal eines zerstörten Spielzeugs, während die Erwachsenen das Geschehen mit allen Gefühlen und Erinnerungen, die mit dem Tod und Verlust eines Menschen verbunden sind, aufladen.
Beide Zuschauergruppen sehen das Gleiche und sie teilen eine bestimmte Qualität der Bilder, eine Stimmung und Atmosphäre. Doch jeder nimmt das Gesehene seinem Erfahrungshorizont entsprechend wahr. Der ästhetische Genuss wird zum gemeinsamen Erleben, ein Erfahrungsraum über die Generationen hinweg öffnet sich.

Dabei sind die Ressourcen der theatralen Mittel reich und noch lange nicht ausgeschöpft.
Immer wieder wird das Genre durch bildende und darstellende Künstler*innen und Musiker*innen bereichert, die vorher noch nie für kleine Kinder gearbeitet haben. Der Reiz für die Künstler*innen liegt in der Reduktion, in der Einlassung auf eine recherchebasierte Arbeitsweise und in der Öffnung des Arbeitsprozesses. Häufig begeben die Künstler*innen sich zur Hospitation in Kitas oder auf Spielplätze auf der Suche nach Inhalten, Materialien, Perspektiven. Zwischenstände werden eingeladenen Kindern auf Proben präsentiert, um zu überprüfen, ob die gewählten Ausdrucksmittel „funktionieren“. Der weitgehende Verzicht auf den Symbolcharakter der Sprache, auf psychologische Figurenführung, auf eine klassische Narration und auf die vierte Wand fordert die Künstler*innen heraus und gibt ihnen andererseits die Freiheit, innerhalb der gesetzten Koordinaten zu experimentieren.

Vor allem postdramatische Prinzipien und Merkmale der Performancekunst finden ihren Niederschlag in den neuen Formen für diese spezielle Zuschauergruppe: eine künstlerisch-forschende Haltung, die Konzentration auf das „phänomenale Geschehen“ in tatsächlich sich vollziehenden Handlungen, das Sichtbarmachen der Prozesse, nicht immer aber häufig der Einbezug der Zuschauer*innen als gestaltender Kraft im künstlerischen Ereignis, die Vielfalt hybrider Kombinationen verschiedener Medien und Darstellungsformen. Vor diesem Hintergrund suchen wir die künstlerische Zusammenarbeit mit Choreograf*innen, Tänzer*innen und Performer*innen, die offen sind für die Herausforderungen und Forschungsmöglichkeiten, die sich in der Arbeit für diese Zielgruppe ergeben.

Wir verstehen die Arbeit für das jüngste Publikum als einen Möglichkeitsraum für Künstler*innen aller Genres und Sparten jenseits von Hierarchisierungen ihr eigenes Theaterverständnis zu hinterfragen und neue Impulse für die darstellenden Künste zu setzen.